Dieser Erinnerungsbericht stammt von Frau Naedler, der Enkelin des ersten Flussbadpächters Wilhelm Müller senior und Tochter von Wilhelm Müller junior. Neben der Geschichte des Flussbades wird auch ein Teil Rostocker Stadtgeschichte in diesem Zeitzeugnis anschaulich.
Mein Großvater, Wilhelm Müller (genannt Bademöller) ist 1881 geboren. Im 1. Weltkrieg, vermutlich 1916, wurde er verwundet. Seine linke Hand wies nur noch Daumen und Zeigefinger auf, der Mittelfinger war verkrüppelt. Aus dem Grund war er in seiner beruflichen Tätigkeit eingeengt. Im Sommer der darauf folgenden Jahre hat er in einer Badeanstalt am Petritor, in der Nähe der Firma Ludwig-Wasserbau, gearbeitet. Diese Badeanstalt war auf Pfählen gebaut. Es gab etwa 20 Kabinen. Eine Treppe bestehend aus etwa zehn Stufen führte ins Wasser hinein. Vermutlich war alles wegen der Hochwassergefahr so hoch gebaut.
Die Winter 1922/23 und 1923/24 waren sehr lange kalt. Es gab viel Schnee. Die Warnow und Ostsee waren zugefroren. Man konnte zu Fuß auf dem Eis nach Dänemark gelangen. Die Badeanstalt am Petritor wurde in diesen Wintern durch Eis und Sturm zerstört. Dann wurde von der Stadt Rostock die neue Badeanstalt am Mühlendamm gebaut. Auf dem Gelände war eine Firma (Tiefbau, Straßenbau) aus Berlin ansässig. Es lagen auf dem Gelände Loren, Schienen und Werkzeug. Zuerst war die Badeanstalt 20–25 m breit. Man musste also zunächst einmal das Gebiet der Baufirma überqueren. Der Badebereich war streng getrennt nach Männern und Frauen. Der Sand wurde im Frühjahr von Warnemünde angefahren. Wilhelm Topp hatte einen Fischkutter umgebaut und fuhr laufend Sand von Warnemünde an. Alles wurde mit Schaufeln und Schubkarre bewältigt. Die Baufirma gab 1925/26 das Lager und das Kontor auf.
Danach wurde das Gelände saniert und die Badeanstalt weiter ausgebaut. Der Eingang wurde zur Straße hin verlegt und eine Mauer aus Betonsteinen aufgebaut. Das Kontor, ein einfacher Bau, wurde von meinem Großvater mit eigenen Mitteln ausgebaut. Die Familie konnte dort nach der Renovierung einziehen. Bis etwa 1955/56 hat meine Großmutter in diesem »Bungalow« noch gewohnt. Sie zog dann in die Goethestrasse um, wo sie 1963 verstarb. Ein Garten wurde am »Bungalow« angelegt.
1927/1928 wurde die Insel gegenüber der Badeanstalt (zu den Gaswerken) auch ausgebaut und durch zwei Brücken mit der Badeanstalt verbunden. Es wurde ein Nichtschwimmerbecken aus Beton erstellt, welches etwa 50 m lang und 10–15 m breit war und einen Betonboden hatte. Familien haben die Wiese auf der Insel gerne benutzt. Leider wurde sie 1942 durch Bomben stark beschädigt. Das Schwimmbecken musste gesperrt werden. Links neben dem Eingang zur Badeanstalt wurde auch eine Halle für Fahrräder mit etwa 100 Stellplätzen gebaut. Diese Fahrradaufbewahrung wurde von einem Invaliden, Herrn Michels, gegen eine kleine Gebühr betrieben. Die Anzahl der Kabinen wurde auf 190, das heißt je 95 für Männer- und Frauenseite, erhöht. Je nach Wetter beziehungsweise Benutzung wurden diese Kabinen einmal pro Woche gründlich gereinigt. Das bedeutete: zwei Eimer Wasser pro Kabine mussten aus der Warnow geschöpft werden. Über 25–50 m mussten jeweils zwei Eimer mit einem Fassungsvermögen von 10 Litern durch den Sand geschleppt werden. Die Kinder und Enkelkinder der Familie wurden recht früh für alle in der Badeanstalt anfallenden Arbeiten eingesetzt. Dazu gehörten auch das allabendliche Sammeln von Papier und Müll, das Wassertragen, Kassieren von Eintrittsgeldern, Annahme und Aushändigen von Kabinenschlüsseln, Schwimmunterricht beaufsichtigen. Bei schlechtem Wetter war Ruhetag.
In den Morgenstunden rückten sehr oft kompanieweise Soldaten vom 27. Regiment an. Harter Drill und Schwimmenlernen standen für die Soldaten auf der Tagesordnung. Es handelte sich um ein Berufsheer. Für einige besondere Leistungsabzeichen mussten 3.000 m geschwommen werden. Das war die Strecke von Kessin (Brandts Gasthof) bis zur mittleren Brücke in der Badeanstalt. Mehrmals musste mein Vater, Wilhelm Müller, geboren am 26.05.1916 in Rostock, für seinen Vater einspringen, indem er nach Kessin fuhr, dort ins Wasser ging und das Tempo mit angab. Ein Boot fuhr auch mit. Die Eintrittspreise in der Badeanstalt blieben immer gleich: Eintritt für Kinder: 5 Pfennig, Eintritt für Erwachsene: 10 Pfennig, Preis für eine Kabine/Zelle: 25 Pfennig und Schwimmunterricht: 5 Mark (das beinhaltete den Unterricht und freien Eintritt). Erwachsene mussten für den Schwimmunterricht mehr bezahlen, da es bei ihnen länger dauerte. Im Sommer sind meine Großeltern immer sehr früh aufgestanden, meistens um 5 Uhr. Gegen 6 Uhr kamen die ersten Stammgäste – es waren Rostocker Geschäftsleute, Ärzte, Rechtsanwälte. Oft wurde nach dem Baden Frühstück im »Bungalow« eingenommen und miteinander gesprochen. Im Sommer war abends oft bis 22 Uhr Betrieb. Sonntags wurde allerdings um 18 Uhr geschlossen.
Im Winter kamen zwei bis drei Badegäste durchgehend. Mein Großvater hielt ein Loch im Eis offen. In den 30er Jahren wurde mit Hilfe des Arbeitsdienstes in einer Wiese hinter der Eisenbahnbrücke
(Geinitzbrücke) eine Fläche von etwa 200 m x 100 m ausgehoben. Im Winter war das eine ideale Eisbahn. Mein Großvater hatte dort eine Bude aufgestellt. Hier wurden Schlittschuhe verliehen und
warme Getränke verkauft. Diese Fläche musste vom Schnee freigehalten werden. Eintritt musste bezahlt werden.
1928/1929 wurde für das Militär noch ein Platz zur Badeanstalt genommen. Zwischen Badeanstalt und Schiffsschleuse (Kanal) wurden etwa 50 m Ufer befestigt, umzäunt, planiert und mit Seesand aufgefüllt. Ein offener Schuppen wurde für die Soldaten zum Umkleiden gebaut. Es wurden in Zusammenarbeit mit dem Schwimmverein Rostock Abendfeste und Lampionfeste veranstaltet. So wurde beispielsweise vom Wasserbauamt Oberwarnow (Werkstatt bei der Schleuse) ein Floß ausgeliehen. Es wurden viele Seerosen und Schilf gepflückt. Weiterhin wurden viele Eimer Torf besorgt (meistens im August). Auf dem Floß wurde ein Feuer gemacht. Die Frauen und Männer wurden mit Torf eingerieben, dann wurde aus Schilfblättern ein Rock gefertigt. Mit viel Hallo und Tamtam wurde das Floss in die Badeanstalt gerudert. Hier kamen dann verkleidete Polizisten, um die »Wilden« gefangen zu nehmen. Ein »gewaltiger Kampf« entstand. Es gab schon einen Riesenspaß! Die Besucher der Badeanstalt mussten vermutlich einige Pfennig mehr Eintritt bezahlen. Die Damen bekamen je eine Seerose. Erfrischungen (Getränke wie Bier und Schnaps, Eis am Stiel, Schokolade …) gab es auch. Bis Mitternacht dauerte das Spektakel, unter anderem zeigten die Schwimmvereine Wettkämpfe.
1936, während der Olympischen Spiele in Berlin, gab es in der Badeanstalt auch einige besondere Veranstaltungen, zum Beispiel das Wettschwimmen von Kessin über 3.000 m. Daran nahmen ungefähr 60 Schwimmer teil.
Am 19. Mai 1947 verunglückte mein Großvater ohne Fremdeinwirkung beim Fliederpflücken in der Badeanstalt. Er verstarb am 24. Mai 1947 an den Folgen des Unfalls. Da mein Vater 1937 aus Spaß den »Staatlich geprüften Schwimmmeister« gemacht hatte, konnte er nach dem Tod meines Großvaters die Badeanstalt übernehmen.
Es gab einen Pachtvertrag mit Rostock. Nach dem sehr harten Winter 1947 mit viel Schnee und Eis (Ostsee zugefroren) gab es noch am 1. Mai meterhohe Eisbarrieren an der Küste. Ab Mitte Mai (so um den 20. Mai herum) stellte sich dann der Hochsommer ein. Der gesamte Sommer war sehr schön und warm. An einigen Sonntagen müssen wohl manchmal bis zu 10.000 Besucher in der Badeanstalt gewesen sein. Bei der großen Anzahl von Badelustigen war eine Kontrolle nicht möglich. Viele sind über den Zaun geklettert oder über das Wasser in die Badeanstalt gelangt. Die Wiese war gesperrt, da das Nichtschwimmerbecken zerstört war. Trotzdem sind viele Besucher über die Absperrung gestiegen. Es war eine gewaltige Arbeit für die Betreiber der Badeanstalt: von morgens um 5 Uhr bis abends 22 Uhr waren sie auf den Beinen. Mein Vater betätigte sich in dieser Zeit auch als Schwimmlehrer. Er unterrichtete im Sommer etwa 300 bis 350 Schüler. Einige bekamen kostenlosen Unterricht. Die Jungen waren in jener Zeit mager und unterernährt. Waren sie zehn Minuten im Wasser, wurden ihre Lippen schon blau. Die Mädchen konnten besser durchhalten.
Die Sommer 1948 und 1949 waren nicht so heiß, deshalb ging es etwas ruhiger zu. Meine Großmutter, Johanna Müller, war damals schon 60 Jahre alt. Sie hat alle Tage eifrig mitgearbeitet: Woche für Woche ohne Pause. Bei der mangelhaften Verpflegung war die Belastung durch die Badeanstalt für die Familie doppelt groß. Durch einige Schwarzmarktgeschäfte konnten sie sich ein Zubrot besorgen.
1949 wurde im Laufe des Sommers der Druck durch einige SED-Funktionäre und Russen immer stärker. Durch einen alten Freund meines Großvaters, der bei der Polizei war, erhielt mein Vater den Hinweis, dass er mit einer Verhaftung zu rechnen hätte. Ende 1949 verließ mein Vater die DDR. Mit einigen Flüchtlingen gelang ihm auf einem Fischkutter die abenteuerliche Flucht nach Schweden.
Im Nachhinein ist anzuerkennen, dass die Stadt Rostock in der schlechten Zeit nach dem 1. Weltkrieg, also nach Inflation, Geldumstellung, hoher Arbeitslosenzahl, doch Mittel aufbrachte, um die Badeanstalt aufzubauen. Mein Großvater musste Pacht bezahlen, es waren pro Jahr 3.000 Reichsmark. Die Eintrittspreise blieben bis 1939 gleich! Es war aber auch im Pachtvertrag festgelegt worden, dass an den Wochentagen (Montag bis Sonnabend) von 14 bis 16 Uhr freier Eintritt gewährt wird. Die Benutzung von Kabinen und Zellen war nicht kostenfrei.
Mein Großvater hatte auch gerne einen Rohrstock bei sich. Wenn er einen Jungen – manchmal auch ein Mädchen – erwischte, die dummes Zeug gemacht hatten, dann legte er das Kind übers Knie und schlug auch angeblich zu, hat aber nie getroffen. Dem Kind aber hat er zugeflüstert, es solle schreien und weinen, sonst würde es bestraft. Wenn das nicht klappte, mussten sie sich beim Eingang verabschieden. Er hat sie dann später immer wieder erkannt und ermahnt. Trotzdem war er bei den Kindern sehr beliebt. Manchmal schenkte er den Kindern auch einen Sahnebonbon (pro Stück 1 oder 2 Pfennig). Man könnte sicherlich viele Anekdoten über meinen Großvater erzählen. Im Winter 1923/24 hat er in der Bucht von Kalkofen (Petribrücke) ein Schlittenkarussell errichtet. Da waren Pfähle im Wasser. Der Schnee wurde zu einem größeren Wall aufgeschaufelt. An dem Pfahl wurde ein großer Fischerschlitten mit Tauen befestigt. Da konnten etwa sechs Kinder Platz nehmen. Ein bis zwei Männer brachten den Schlitten in Bewegung. Immer schneller und schneller bewegte sich das Karussell, bis sich die Kinder nicht mehr halten konnten und im hohen Bogen in den Schneewall geschleudert wurden. Ein tolles Spiel. Es ist nie etwas passiert dabei. Mein Großvater war schon ein Rostocker Original, vielleicht wurde er deshalb im 1000-jährigen Reich nicht verhaftet. Oft genug wurde er ermahnt. Wenn Parteigrößen in die Badeanstalt kamen, so hat er sie grundsätzlich mit »Du« angeredet: »Wat wullt du hier – schwemmen oder kieken? Schwemmen kost' 25 Pfennig, kieken kost' 10 Mark.« Meine Großmutter hat so manches Mal gezittert vor Angst.